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„Das Orale“: Literarische Expedition führt in die Mundhöhle

Beate Slominski (Bild) ist Zahnärztin, Günderin des Instituts für Wissenschaft und Kultur und Herausgeberin des Buches „Das Orale“. (© Beate Slominski)
Yvonne Bachmann, DTI

Yvonne Bachmann, DTI

Mo. 12. August 2013

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LEIPZIG - Der Mund ist nicht nur ein Ort, in dem Nahrung verschwindet. Er ist so viel mehr, dass man mit Texten und Bildern darüber ein ganzes Buch füllen kann. So haben sich Vertreter der Zahnmedizin sowie Autoren mit der Thematik beschäftigt und für die Publikation „Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin“ ihr Wissen zusammengetragen. Dental Tribune Online sprach mit Beate Slominski, Zahnärztin und Herausgeberin des Buches.

Frau Slominski, in dem von Ihnen herausgegebenen Buch beleuchten Dutzende Autoren die verschiedensten Aspekte der Mundhöhle. Auf rund 350 Seiten geht es um grundsätzliche wissenschaftliche Grundlagen, aber auch um die Psychodynamik der Mundhöhle, Traumdeutung, die Zahnmedizin im kulturellen Kontext und um Schriften, die sich mit dem Thema befassen. Wie sind Sie auf die Idee für dieses Buch gekommen, und wie haben Sie die Autoren gefunden?
Im Vorstand unseres Instituts für Wissenschaft und Kultur, einem zahnmedizinischen Fortbildungsinstitut, sitzen zu gleichen Teilen Vertreter aus dem Bereich der Zahnmedizin sowie der Kulturwissenschaften und der Künste. Insofern war es nur konsequent, dass wir uns zwei Jahre nach der Gründung des Instituts und dem Beginn dieser interdisziplinären Zusammenarbeit dem Buchprojekt „Das Orale“ zuwandten, das die experimentelle Form unserer bisherigen Aktivitäten nun in gedruckter und nachprüfbarer Gestalt fortsetzen sollte. Die Produktion des Buches ging dann temporeich voran. Mit sehr vielen unserer Kooperateure sind wir gut bekannt, und die gewonnenen Autoren haben mit großer Zuverlässigkeit gearbeitet.

Schaut man in das Inhaltsverzeichnis des Buches, stößt man unter anderem auf Begriffe wie „Schreiender Papst“, „Fetisch und Folter“, „Die Hölle im Zahn“ oder „Kampf um Lust und Macht im oralen Raum“. Gab es bereits Reaktionen auf das Buch oder einzelne Kapitel?

Für uns war es die größte Freude, aber auch die größte Herausforderung, eine Komposition für das Buch zu finden. Was das Layout etc. angeht, haben wir eng mit dem im Kunstsektor sehr erfahrenen Buchgestalter zusammengearbeitet. Wichtig war uns von Beginn an, dass dieses Buch nicht nur einen informativen, sondern einen unterhaltsamen und anregenden Charakter haben sollte. Grundlegend war die Entscheidung, dass zwischen allen Textbeiträgen, die oft genug attraktiv wie sachdienlich bebildert sind, sogenannte Intermezzi geschaltet wurden. Auf einem etwas anderen Papierfarbton wurden eine oder mehrere Abbildungen – von der Antike bis zur neuesten Kunst – gesetzt, die umseitig auf knappe und konzentrierte Weise interpretiert und erläutert werden. So ist ein Art Kunstkatalog über das ganze Buch verstreut. Diese Intermezzi tragen alle Titel, von denen Sie gerade einige genannt haben.

Zudem sind es eben Zwischenspiele; sie können von Leser und Leserin zwischen zwei Tätigkeiten oder von einem Patienten im Wartezimmer in wenigen Minuten, sozusagen en passant, aufgenommen werden. Diese Intermezzi laden zum Stöbern ein – und ein Buch zum Stöbern und Entdecken, zum Blättern und Betrachten sollte es werden. Schließlich sind diese Intermezzi oft miteinander assoziiert oder mit dem vorangegangenen oder nachfolgenden Aufsatz inhaltlich verbunden. So ergibt sich eine Buchstruktur, die mehr einem vielfach hin und her webenden Netz ähnelt als einem linearen Argumentationsgang, auch wenn es im Einzelnen solche Texte, also wissenschaftliche Standardtexte, auch gibt.

Es ist keine Frage, dass diese Gestaltung gut aufgenommen wird. Man findet ein wissenschaftlich orientiertes Buch, das dennoch die Kreativität des Assoziativen und des Abenteuers im ungesicherten Gelände zulässt und verlangt. Soweit wir das gehört haben, reagieren professionelle Leser und Wissenschaftler darauf ebenso positiv wie „normale“ Leser, die womöglich den Künsten ebenso fern stehen wie den Wissenschaften oder der Zahnmedizin.

Die zahlreichen Bilder reichen von klassischen Stillleben über Installationen bis hin zum CD-Cover und zur Fotografie. Können Sie ein, zwei Werke nennen, die einen – auf den ersten Blick vielleicht gar nicht so offensichtlichen – Bezug zum Oralen haben und sehr bekannt sind?
Die Aufgabe der Entdeckung des „Dark Continent“, der Mundhöhle, der Versuch einer Expedition in diese Höhle unseres Selbst, konnte nur bewältigt werden, in dem wir ohne Zögern literarische und kunsthistorische Zeugnisse, populäre Praktiken und Redensarten, Filme und Gedichte, künstlerische Auseinandersetzungen und rituelle Gebräuche, die um den Mundraum gruppiert sind, im Buch zugelassen haben. Wir glauben, dass derartige Quellen die explorative Aufgabe, die unser Buch hat, oft sogar besser erfüllen als etablierte Wissenschaften. Man muss sich frei machen von dem, was der deutsche Kulturwissenschaftler Aby Warburg die „grenzpolizeiliche Befangenheit“ nannte und wodurch er die Entdeckung des Neuen und die unbefangene Überschreitung von Grenzen behindert sah.

Wenn Sie Beispiele dafür wollen, so nennen wir das Gemälde „Der Zahnreißer“ aus dem Jahr 1622, von Gerrit van Honthorst, das Kunstprojekt „Tausend Zungen“ aus dem Jahr 1993, von Thomas Schütte, die kultische Verehrung von Zungen- oder Zahnreliquien oder die vielen Gemälde von Drachen und Höllenmäulern, die uns etwas über die elementare Aggression erzählt, die in den Zähnen sitzt, oder von der Angst vor dem Gefressenwerden. All das sind höchst aufschlussreiche Szenen aus der Geschichte der Emotionen, die im Oralen ihren Ursprung haben.

In Deutschland gibt es kein anderes Werk, das sich so ausführlich mit der Thematik Orales beschäftigt. Wissen Sie, ob es in anderen Ländern ähnliche Veröffentlichungen gegeben hat?

Es gibt in allen westlichen Ländern reich bebilderte Wissenschaftsgeschichten der Zahnmedizin, die für uns auch anregend waren. Aber sie alle sind eben monodimensional auf die Zahnmedizin zugeschnitten und erzählen wissenschaftliche Fortschrittsgeschichten. Wir aber wollten den ganzen Reichtum der oralen Leistungen in Abhandlungen, Essays und Bildern präsentieren, von der neuronalen Repräsentation des Mundraums im Gehirn bis zur „oralen Phase“ im Freudschen Entwicklungsmodell, von den Zahnträumen bis zur ästhetischen Zahnheilkunde, vom zarten Kuss bis zur wüsten oralen Aggression, von der Kultur der Zunge in der Gastrosophie bis zur Ernährungswissenschaft, vom Atem bis zum Hervorbringen von Sprache und Musik durch den Mund. So etwas gibt es unseres Wissens auch im Ausland nicht, nicht einmal in den USA, wo doch so viele grenzgängerische Experimente an Universitäten möglich sind.

Am 4. September findet in Berlin eine Veranstaltung zum Buch statt. Fachbesucher erhalten für die Teilnahme sogar drei Fortbildungspunkte. Was genau wird dort geschehen?

Was erwarten Besucher eines Literaturhauses an einem solchen Abend? Wir vermuten sie wollen vielfältige Anregungen und Anschauungen zu einem Thema hören und sehen, worüber sie in der Mehrheit noch kaum nachgedacht oder worüber sie nur spezielles medizinisches Fachwissen haben. Also wird es ein Feuerwerk von Bildern geben, deren frei improvisierte Kommentierung etwas von dem Expeditionscharakter des Buches wiedergeben soll. Und vielleicht gibt es noch diesen oder jenen Überraschungsgast.

Sie planen ein zweites Buch. Können Sie schon etwas darüber verraten?

Ja. Doch stehen wir noch ganz am Anfang. Wir wollen mit einem medizinischen Verlag, der weltweit und in allen großen Sprachen agiert, unsere Themen neu konfigurieren. Was wir aus dem vorliegenden Buch gelernt haben und was daran systematisch und theoretisch wegweisend ist, soll benutzt werden, um nun in einer systematischen Ordnung die Dimensionen des Mundraumes durchzudeklinieren. Das heißt aber nicht, dass wir ein Lehrbuch liefern wollen. Lehrbücher kann es nur im Rahmen von Einzelwissenschaften geben, und an deren Grenzen halten wir uns ja gerade nicht. Nein, die Quellenvielfalt, die Multimedialität und die Interdisziplinarität sollen erhalten und ausgebaut werden, wobei die internationalen Zusammenhänge mehr Rücksicht finden sollen.

Wissenschaftlich gesehen werden wir die Paläoanthropologie und Vergleichende Zoologie, die Evolutionsbiologie, die Verwissenschaftlichungsprozesse des Mundraums und ihre kulturellen Folgen stärker herausarbeiten, aber auch die orofazialen Störungen, die Gesichtschirurgie, die Psychologie und Psychoanalyse des Mundraums etc. Darüber hinaus soll die Theoriearbeit verstärkt werden, aber ebenso auch den Künsten und Literaturen, der Popularkultur und den ethnischen Differenzen ein bedeutender Raum gegeben werden.

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