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Erster Lehrstuhl für Behindertenzahnmedizin an der UW/H

Die Behindertenzahnheilkunde soll ein selbstverständlicher Bestandteil der zahnmedizinischen Versorgung werden – an der Universität Witten/Herdecke entsteht der erste Lehrstuhl dafür. © Goran Bogicevic - Fotolia.com
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Mi. 21. Mai 2014

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WITTEN/HERDECKE – Die zahnmedizinische Therapie von Menschen mit Behinderungen hat es schwer, sich als eigenständiger Behandlungszweig zu etablieren. So wird sie an den meisten Universitäten nicht gelehrt und auch das Fehlen entsprechender Abrechnungspositionen macht die Integration für viele Zahnärzte schwierig. Das will die Uni Witten/Herdecke mit einem neuen Lehrstuhl ändern. Die Redaktion sprach mit Prof. Dr. Stefan Zimmer über aktuelle universitäre Entwicklungen und den Status quo der Behindertenzahnheilkunde in Deutschland.

Herr Prof. Dr. Zimmer, an der Uni Witten/Herdecke wird der bundesweit erste Lehrstuhl für behindertenorientierte Zahnmedizin geschaffen. Wie kam es zu dieser Entwicklung und wie finanziert sich dieser?

Unsere Universität beschäftigt sich schon seit den Achtzigerjahren mit dem Thema Zahnmedizinische Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Bereits 1987 wurde eine Ambulanz für Special Care gegründet, in der dieser Personenkreis behandelt werden konnte. Da Prof. Cichon, der die Ambulanz als externer Lehrbeauftragter bis vor zwei Jahren geleitet hatte, mittlerweile die Altersgrenze erreicht hat, mussten wir uns überlegen, wie es weitergeht, und wir hatten natürlich den Anspruch, diesen Bereich nicht nur weiterzuführen, sondern weiterzuentwickeln und so entstand die Idee für einen Stiftungslehrstuhl. Glücklicherweise hat die Software-AG Stiftung aus Darmstadt mit Unterstützung durch die Stuttgarter Mahle-Stiftung die Finanzierung des Lehrstuhles für zunächst fünf Jahre übernommen.

Welche Expertise hat die Uni Witten/Herdecke auf diesem Gebiet?

Prof. Cichon hatte sich auf diesem Gebiet habilitiert und Ende der Neunzigerjahre zusammen mit Prof. Grimm, unserem damaligen Lehrstuhlinhaber für Parodontologie, sogar ein Lehrbuch mit dem Titel „Zahnheilkunde bei behinderten Patienten“ geschrieben. Meines Wissens ist es das einzige deutschsprachige Lehrbuch für dieses Gebiet. Natürlich ist im Laufe der Jahre auch sehr viel praktische Kompetenz auf diesem Gebiet an unserer Uni entstanden, die wir versuchen, an unsere Studierenden weiterzugeben. Seit etwa zwei Jahren steht die Ambulanz unter der Leitung unseres Lehrstuhlinhabers für zahnärztliche Chirurgie, Prof. Jackowski. Jeder Studierende unseres Hauses erhält eine besondere Ausbildung in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen und bekommt dies am Ende des Studiums auch durch ein spezielles Abschlusszertifikat bestätigt.

Welche langfristigen Ziele werden mit der Einrichtung des neuen Lehrstuhls verfolgt?

Wir wollen das Fach akademisch weiter entwickeln, das heißt zunächst mehr Forschungsoutput auf dem Gebiet generieren. Das soll sich auch in mehr Promotionen und in Habilitationen niederschlagen, um so letztlich den wissenschaftlichen Nachwuchs für dieses wichtige Teilgebiet der Zahnmedizin zu entwickeln, den es heute gar nicht gibt. Dazu gehört auch, wissenschaftliche Grundlagen für die zukünftige zahnmedizinische Versorgung von Menschen mit Behinderungen zu schaffen. Das betrifft nicht nur die Therapie, sondern auch die Prävention und soll als Basis dienen, neue Abrechnungspositionen für die Krankenkassen zu beschreiben, damit die Behandlung von Menschen mit Behinderungen auch ökonomisch auf bessere Beine gestellt werden kann. Auf beiden Feldern – Wissenschaft und Versorgung – gibt es noch viel zu tun, aber schließlich hat ein Mensch mit Behinderung das gleiche Recht auf eine gute medizinische Versorgung wie ein nicht behinderter.

Bitte beschreiben Sie den aktuellen Stand der zahnärztlichen Versorgung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland.

Die Behandlung von Menschen mit Behinderungen ist kein Bestandteil der gültigen Approbationsordnung für Zahnärzte und wird daher meist an den Universitäten auch nicht gelehrt. Außerdem gibt es keine speziellen Abrechnungspositionen für die Behandlung dieses Personenkreises. Jedem ist aber sofort klar, dass die Behandlung eines schwerst geistig behinderten Patienten wesentlich zeitintensiver und anspruchsvoller als die Behandlung eines Patienten ohne Behinderung ist. Außerdem fehlen zumindest in der Breite Präventionskonzepte. Gerade weil Menschen mit Behinderungen aber aus verständlichen Gründen ihre häusliche Mundhygiene nicht so wie Menschen ohne Behinderung ausüben können und das Betreuungspersonal dafür auch nicht geschult ist, gibt es hier einiges zu tun.

Man hat das Gefühl, dass die Ausrichtung „Behindertenzahnheilkunde“ oftmals etwas stiefmütterlich behandelt wird. Wie erklären Sie sich dieses Defizit?

Was die eigentliche Ursache dafür ist, darüber kann man nur spekulieren. Menschen mit Behinderungen haben in unserer Gesellschaft lange nicht den Stellenwert gehabt, der ihnen zusteht, nämlich als völlig gleichberechtigte Mitglieder unseres Gemeinwesens. Das liegt sicher auch daran, dass sich geistig Behinderte in der Regel nicht uneingeschränkt am öffentlichen Leben beteiligen können.

Wie sehen Zahngesundheit und Mundhygiene bei Menschen mit Behinderungen aus?

Die Mundhygiene insbesondere bei Menschen mit schweren geistigen Behinderungen ist im Durchschnitt schlecht. Die therapeutischen Bedürfnisse sind im Prinzip die Gleichen wie bei Patienten ohne Behinderung, aber oft stärker ausgeprägt und die Behandlung ist sehr viel schwieriger, weil die Fähigkeit zur Mitarbeit natürlich geringer ist. Außerdem sind viele Syndrome, die mit einer Behinderung einhergehen, auch mit speziellen zahnmedizinischen Problemen assoziiert. So sehen wir beispielsweise bei Menschen mit Trisomie 21, dem sogenannten Down-Syndrom, eine erhöhte Häufigkeit von Parodontalerkrankungen.

Unterscheidet sich die Behandlung von Menschen mit körperlicher Behinderung von Eingriffen bei Menschen, die geistig behindert sind?

Das kann man grundsätzlich mit einem klaren „ja“ beantworten. Die meisten Patienten mit körperlichen Behinderungen haben eine uneingeschränkte Kooperationsfähigkeit während der zahnmedizinischen Behandlung. Man braucht nur oft etwas mehr Platz im Behandlungszimmer, z.B. bei rollstuhlpflichtigen Patienten, die entweder im Rollstuhl behandelt oder in den Behandlungsstuhl gehoben werden müssen. Die Behandlung von Menschen insbesondere mit schweren geistigen Behinderungen ist aber viel anspruchsvoller, weil diese Patienten in ihrer Kooperationsfähigkeit sehr eingeschränkt sind. Sie können z.B. nicht so ohne Weiteres den Mund offenhalten, sind unruhiger und haben weniger Geduld. Auch haben sie in der Regel Schwierigkeiten, Art und Ort von Beschwerden zu beschreiben.

Wie sieht ein ideales Präventionsprogramm für diese Patientengruppe aus?

Wenn ich das wüsste, wären wir schon einen Schritt weiter. Gesichert ist aber, dass die Prävention primär aufsuchend stattfinden muss, d.h. wir müssen in die Einrichtungen gehen und dürfen nicht darauf warten, dass die Menschen zu uns kommen. Grundsätzlich gelten, da die Krankheitsbilder die Gleichen sind, auch die gleichen Präventionsprinzipien wie bei Menschen ohne Behinderungen. Das schwierige ist aber die praktische Implementierung. Wie lässt sich Prävention in den Alltag in den Einrichtungen integrieren und in welchen Zyklen muss die aufsuchende professionelle Prävention stattfinden? Wie lassen sich gesunde Lebensverhältnisse in den Einrichtungen schaffen? Das sind offene Fragen.

Wie bewerten Sie die Integration solcher Konzepte in unser Gesundheitssystem?

Wir müssen eine wissenschaftliche Evidenz für diese Konzepte schaffen und dann müssen Wissenschaft und Standesvertretung dafür eintreten, dass diese Evidenz in unserem zahnmedizinischen Versorgungssystem entsprechenden Niederschlag findet.

Welche Kompetenzen sollte ein Zahnarzt mitbringen, um behinderte Patienten behandeln zu können?

Ohne hier zu sehr ins Detail gehen zu wollen: Man braucht eine entsprechende Fachkompetenz sowohl in zahnmedizinischer Hinsicht als auch in der Behandlungsführung, also psychologische Kompetenz, und Empathie, die man aber als Zahnarzt immer braucht. Entsprechende zahnmedizinische Kompetenz bedeutet z.B., dass man bei Menschen mit Behinderungen Indikationen oft anders stellen und andere Versorgungsoptionen wählen muss, weil ich z.B. dafür sorgen muss, dass ein Patient, der in Vollnarkose behandelt wird, nicht drei Wochen später wieder eine Vollnarkose braucht, weil ich in der Diagnose zu optimistisch war. Ein Beispiel: Wenn Sie einen Zahn mit einer tiefen Karies haben, bei dem ich während der Behandlung die Pulpa geringfügig eröffne, dann versuche ich, durch eine sogenannte direkte Überkappung die Pulpa vital zu erhalten. Das kann aber schiefgehen und zu Zahnschmerzen führen, die kurze Zeit später eine Wurzelbehandlung erforderlich machen. Bei einer Behandlung im Rahmen einer Vollnarkose würde ich dieses Risiko nicht eingehen. Damit bin ich bei dem Thema, dass die Behandlung von Menschen mit Behinderungen auch eine besondere zahnmedizinische Infrastruktur erfordert. Ich brauche mehr Platz im Behandlungszimmer, z.B. weil ein Rollstuhl und Betreuungspersonal Platz finden müssen. Und ich brauche eine Infrastruktur, um Behandlungen in Vollnarkose durchführen zu können. Natürlich ist es aber nicht sinnvoll, dass jede Praxis eine solche Infrastruktur vorhält. Hier müssen Anreize gesetzt werden, dass sich Tätigkeitsschwerpunkte oder Zentren entwickeln.

Was raten Sie Zahnärzten, denen es noch an Erfahrung im Hinblick auf Behandlungen von Menschen mit Behinderungen fehlt?

Das ist ein schwierige Frage: Ich weiß es nicht, weil es meines Wissens keine speziellen Fortbildungsangebote auf diesem Gebiet gibt. Das bringt mich auf die Idee, dass wir solche Fortbildungen in Zukunft anbieten sollten. Fragen Sie mich also in ein bis zwei Jahren noch mal.

Was wünschen Sie sich langfristig für die Behindertenzahnheilkunde?

Dass sie ein selbstverständlicher Bestandteil der zahnmedizinischen Versorgung wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

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