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Parodontologisch-kieferorthopädische Behandlung Erwachsener

Kieferorthopädische Minischraube (Bild: Dr. Thorsten Sommer)
Dr. Thorsten Sommer

Dr. Thorsten Sommer

Mo. 17. Januar 2011

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KIEL - Waren die kieferorthopädischen Behandlungstechniken in früheren Zeiten im Wesentlichen auf die Prophylaxe und Korrektur von Fehlstellungen im Kindes- und Jugendalter begrenzt, so ist heutzutage zu konstatieren, dass die kieferorthopädische Behandlung erwachsener Patienten einen integralen Bestandteil einer interdisziplinären Behandlung zwischen ästhetischer Zahnheilkunde, Parodontologie, Implantologie, Kieferchirurgie und Prothetik bildet.

 

Waren die kieferorthopädischen Behandlungstechniken in früheren Zeiten im Wesentlichen auf die Prophylaxe und Korrektur von Fehlstellungen im Kindes- und Jugendalter begrenzt, so ist heutzutage zu konstatieren, dass die kieferorthopädische Behandlung erwachsener Patienten einen integralen Bestandteil einer interdisziplinären Behandlung zwischen ästhetischer Zahnheilkunde, Parodontologie, Implantologie, Kieferchirurgie und Prothetik bildet.

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Die Ursachen dieser Entwicklung sind begründet in
a) einem gesteigerten ästhetischen Anspruch innerhalb unserer Gesellschaft,
b) der Möglichkeit einer nahezu „unsichtbaren“ kieferorthopädischen Behandlung mittels keramischer Brackets, Lingualtechnik und ähnlicher Behandlungstechniken sowie
c) neuer Erkenntnisse und Therapiemöglichkeiten, vor allem im Hinblick auf parodontale Erkrankungen.

Daher muss der Frage Rechnung getragen werden, wie in einem schwierigen biologischanatomischen Umfeld, z.B. Parodontitis als Ausgangssituation, den hohen ästhetischen Ansprüchen der Patienten Rechnung getragen werden kann. Im Vergleich zum klinischen Befund eines Jugendlichen oder Adoleszenten ist der kieferorthopädische Befund eines Erwachsenen häufig durch eine Vielzahl von Faktoren gekennzeichnet, welche teilweise auf destruktive Prozesse im stomatognathen System zurückzuführen sind:

a) parodontaler Knochenabbau und Rezessionen,
b) Zahnverlust,
c) bestehende prothetische und konservierende Versorgungen,
d) Zahnwanderungen,
e) Dysfunktionen des cranio-mandibulären Systems und
f) eingeschränkte Ästhetik in Kombination mit ungünstigem Verlauf der Gingiva und mangelnder Unterstützung durch Interdentalpapillen.

Aus dieser klinischen Untersuchung heraus sollte sich das kieferorthopädische Behandlungsziel an Leitlinien wie dentofazialer Ästhetik, Risiken der kieferorthopädischen Behandlung, parodontaler Prognose, funktionellen Aspekten und biomechanischen Überlegungen orientieren.

Biomechanische Überlegungen
Bei der kieferorthopädischen Behandlung Erwachsener mit parodontaler Vorschädigung und Zahnverlust sind neben der Notwendigkeit parodontaltherapeutischer Maßnahmen vor allem biomechanische Überlegungen hinsichtlich der Kraftgröße und des Drehmoments der kieferorthopädischen Apparatur essenziell für den Erfolg der interdisziplinären Behandlung. Hierbei sind vor allem das reduzierte Verhältnis zwischen der Wurzeloberfläche und dem umbaufähigen Alveolarknochen, die apikale Verlagerung des Widerstandszentrums der Zähne sowie die verminderte Verankerungsqualität parodontal geschädigter Zähne zu berücksichtigen.

Für jede kieferorthopädische Bewegung ist ein individuelles Kräftesystem notwendig, sodass die einzelnen Faktoren wie Kraftgröße, Art der Zahnbewegung und die resultierenden Nebeneffekte Berücksichtigung finden und kontrolliert werden können. Jede kieferorthopädische Bewegung erfordert daher ein kalkulierbares Kräftesystem, dessen Schlüsselfaktoren Kraftgröße, Kraftansatz und Kraftkonstanz in Relation zum Widerstandszentrum der Zähne stehen. In diesem Zusammenhang gewinnt der Begriff der Verankerung, d.h. das Abfangen und / oder der kontrollierte Einsatz der reaktiven Kräfte und Momente (vgl. drittes Newton’sche Axiom: „Kräfte treten immer paarweise auf. Übt ein Körper A auf einen anderen Körper B eine Kraft aus (actio), so wirkt eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft von Körper B auf Körper A (reactio).“), an entscheidender Bedeutung. Die Verankerungsqualität wird im Wesentlichen durch das desmodontale Widerstandszentrum der Ankerzähne beeinflusst. Jegliche Verankerungsstrategie beruht auf der Verteilung der reaktiven Kräfte auf eine möglichst ausgedehnte intakte desmodontale Fläche.

Durch einen Attachmentverlust wird die desmodontale Verankerungsqualität in mehrfacher Hinsicht belastet:
1. Der parodontale Knochenabbau führt aufgrund der Konusform der Wurzeln zu einer überproportionalen Reduktion desmodontaler Aufhängung. Eine marginale Knochenreduktion von 5 mm an einem unteren Prämolaren (vgl. Abb. 1) bedeutet bereits einen Verlust von ca. 50 % der ursprünglichen Verankerungsqualität.
2. Durch einen Attachmentverlust kann ein sekundäres okklusales Trauma ausgelöst werden. Dies bedeutet, dass physiologische mastikatorische Bewegungen ein „Jiggling“ des Zahnes mit erhöhter Zahnbeweglichkeit und verstärkter Osteoklastenaktivität hervorrufen können.
3. Unter biomechanischen Gesichtspunkten stellt eine Verlagerung des Widerstandszentrums nach apikal eine Erhöhung des Kippmomentes der Ankerzähne in allen drei Raumebenen in Bezug auf reaktive Kräfte dar.
4. Der Verankerungswert der Zähne wird zusätzlich durch die desmodontale Reaktionsbereitschaft beeinflusst. Der primär unbewegte Zahn im desmodontalen Ruhestadium bietet den bestmöglichen Gewebswiderstand. Die initiale Nivellierung der Zähne unter Einbeziehung der Ankerzähne erhöht die Proliferationsrate von Osteoklasten und Osteoblasten, und kann somit die Bereitschaft zu unerwünschter Zahnbewegung erhöhen.

Ein Maximum an physiologischer desmodontaler Verankerung lässt sich durch den Verzicht auf eine initiale Nivellierung sowie die größtmögliche Verblockung aller Ankerzähne durch starre Bögen und entsprechende festsitzende Hilfsapparaturen wie Transpalatinalbögen, Nance-Apparaturen oder Lingualbögen erzielen.

Einsatz kieferorthopädischer Minischrauben
Neben diesen, in ihrer Konstruktion eher aufwendigen und für den Patienten unkomfortablen Behandlungsapparaturen stehen heutzutage für den Einsatz bei schwierigen Verankerungssituationen wie reduzierter Zahnzahl, weit fortgeschrittenem Attachmentverlust oder der Nichtakzeptanz extraoraler Verankerungshilfen grazile orthodontische Minischraubensysteme zur Verfügung, die temporär eine hohe Positionsstabilität gewährleisten (Abb.1a–b).

Diese Minischrauben werden in der Regel im Oberkiefer sowohl von vestibulär als auch von palatinal, im Unterkiefer nur von vestibulär oder von koronal inseriert. Eine linguale Insertion im Unterkiefer aufgrund der hohen Verlustrate der Minischrauben scheidet aus. Die Vorteile des Einsatzes kieferorthopädischer Minischrauben liegen zum einen in der Vermeidung reziproker Zahnbewegungen, der Unabhängigkeit von der Patientencompliance, aber auch häufig in einer reduzierten Behandlungsdauer und verringerten Kosten.

Allerdings darf man die Implikationen und möglichen Komplikationen der Insertion einer kieferorthopädischen Minischraube nicht außer Acht lassen. Hierbei sind vor allem der Wurzelkontakt mit Nachbarzähnen oder der Schraubenverlust mangels ausreichender Primärstabilität zu nennen. Beide Komplikationen stellen nach heutigem Kenntnisstand keine Kontraindikationen für den erneuten Einsatz der Minischrauben an einer entfernten Insertionsstelle dar. In Zusammenhang mit parodontologisch geschädigten Zähnen kommt der parodontologischen Vorbehandlung im Sinne der Entzündungsreduktion und -ausschaltung eine entscheidende Rolle zu. Ohne Entzündungsreduktion und bei bestehender Knochenumbauaktivität durch Osteoklasten muss von der Verwendung kieferorthopädischer Minischrauben abgeraten werden. Die Verlustrate kieferorthopädischer Minischraube aufgrund mangelnder Primärstabilität wird in der aktuellen Literatur mit einem Wert zwischen 6% und 15% angegeben. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass unter Berücksichtigung biomechanischer Aspekte und bei klarer Aufgabenverteilung und Absprache zwischen Kieferorthopäde und Zahnarzt/Oralchirurgen/Mund-, Kiefer-, Gesichts-chirurgen diese Verlustrate deutlich unterschritten werden kann. Wie bei der überwiegenden Zahl interdisziplinärer Aufgabenstellungen in der Human- und Zahnmedizin kommt auch bei der Insertion und Anwendung kieferorthopädischer Minischrauben der Kommunikation zwischen den verschiedenen zahnmedizinischen Fachdisziplinen somit eine zentrale Bedeutung zu.

Kieferorthopädische Minischrauben stellen eine sinnvolle Ergänzung der Behandlungsapparaturen in schwierigen Behandlungs- und Verankerungssituationen dar, ersetzen jedoch keinesfalls die kieferorthopädischen Grundkenntnisse. Sie erlauben die Behandlungsapparatur auf ein kleines Einsatzgebiet zu begrenzen, ohne beide Kiefer in die Behandlung einbeziehen zu müssen (Abb.2a–b). Somit kommen sie dem Aspekt der möglichst minimalen visuellen Beeinträchtigung durch die kieferorthopädische Behandlungsapparatur vonseiten des Patienten entgegen.

Die kieferorthopädische Aufrichtung von Molaren bewirkt eine entscheidende Verbesserung der Pfeilerqualität in Bezug auf die definitive prothetische Versorgung. So konnte nachgewiesen werden, dass eine Molarenaufrichtung eine signifikante Reduktion der Plaqueakkumulation, des Sulkusblutungsindexes und der Sondiertiefen zur Folge hat.

Parodontologische-kieferorthopädische Maßnahmen bei Erwachsenen sollten einer strikten Systematik unterworfen werden, um den gewünschten Behandlungserfolg zu gewährleisten und nicht unnötig das Desmodont zu belasten. Der Charakter und der Schweregrad der Parodontitis sowie deren prä- und periorthodontische Kontrolle sind neben der Verwendung einer entsprechenden Biomechanik, eventuell unter Einsatz kieferorthopädischer Minischrauben, die Schlüsselfaktoren für eine erfolgreiche Behandlung. Die kombinierte Behandlung lässt sich systematisch in drei Phasen gliedern:

1. Präorthodontische Phase
mit Reduktion der marginalen Entzündung, Motivation und Instruktion des Patienten, Verbesserung der Hygienefähigkeit, eventueller Augmentation von Weichgewebe und Beseitigung funktioneller Störungen,
2. Orthodontische Phase
unter Anwendung einer befundbezogenen Biomechanik und kontinuierlicher Überwachung der parodontalen Gesundheit und
3. Postorthodontische Phase
mit einer Retentionsdauer von mindestens sechs Monaten, einer parodontalen Reevaluation, der definitiven restaurativen Versorgung und einem Recall.

Orthodontische Maßnahmen können flankierend zu einer Parodontaltherapie ablaufen und hierbei positiv auf die parodontale Situation wirken. Im Vordergrund stehen in diesem Zusammenhang vor allem Maßnahmen, welche die morphologische Situation in Hinblick auf den Alveolarknochen verbessern. Beispielhaft kann ein Attachmentgewinn durch Intrusion von Zähnen erzielt werden. Voraussetzung für den Attachmentgewinn durch Intrusion parodontal geschädigter Zähne ist jedoch, dass vor der orthodontischen Therapie eine Proliferation des Epithels durch entsprechende GTR-Verfahren unterbunden wird. Nur durch die Kombination aus parodontaler und orthodontischer Therapie kann eine parodontale Regeneration bei gleichzeitig orthodontisch induziertem Knochenumbau stattfinden. Ebenfalls möglich ist ein präprothetischer/präimplantologischer Knochenaufbau: Dies kann durch eine Extrusion nichterhaltungswürdiger Zähne oder durch eine Distalisation von endständigen Prämolaren bei einer Freiendsituation erfolgen (Abb. 3a–b).

Im Allgemeinen lässt sich mittels kieferorthopädischer Aufrichtung gekippter Molaren eine Verbesserung der prothetischen Pfeilerqualität herbeiführen. Eine mögliche kieferorthopädische Vorgehensweise zur Aufrichtung nach mesial gekippter Molaren zeigt Abb. 2a–b. Auch die Hygienefähigkeit prothetischer Maßnahmen kann durch kieferorthopädische Behandlungsschritte sinnvoll ergänzt werden. Orthodontisch stehen die Verlängerung der klinischen Krone, eine Korrektur der Achsenstellung der Zähne in orovestibulärer Richtung sowie die Beseitigung von Engständen und Rotationen als wichtigste unterstützende Therapieansätze zur Verfügung. Bollen und Mitarbeiter sowie Eliasson und Mitarbeiter konnten in ihren systematischen Reviews bzw. Untersuchungen aus den Jahren 1982 und 2008 den Effekt von Malokklusionen und daraus resultierender kieferorthopädischer Behandlungsmaßnahmen auf die parodontale Situation nachweisen.

Resümee
Die Möglichkeiten und die Notwendigkeit der kieferorthopädischen Behandlung erwachsener Patienten werden sich in der Zukunft noch deutlich ausweiten, da in einer präventionsorientierten Zahnheilkunde unter ästhetischen und funktionellen Gesichtspunkten die Kieferorthopädie als alleinige Maßnahme oder als integraler Bestandteil einer interdisziplinären Therapie zwischen Parodontologie und Prothetik unverzichtbar werden wird.

(Erschienen in PN 1/2009)

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